E-Partizipation:
Das digitale Dilemma


[6.2.2023] Auch die Bürgerbeteiligung erlebt derzeit – ausgelöst durch die Corona-Pandemie – einen Digitalisierungsschub. Das eröffnet Kommunen viele Chancen, weil sie etwa neue Zielgruppen erreichen, ist aber auch mit zahlreichen Herausforderungen verbunden.

Bürgerbeteiligung findet zunehmend digital statt. Die Corona-Pandemie führte Anfang 2020 zu einer abrupten Unterbrechung laufender deliberativer Verfahren. Primär verantwortlich war dafür die politische Maßnahme des Social Distancing, die eine Minimierung persönlicher Kontakte erzwang. Das hatte nicht nur kurzzeitige Auswirkungen, sondern führte zu zahlreichen abgesagten, stark geschrumpften oder verschobenen Beteiligungsverfahren, wie eine Studie des Berlin Institut für Partizipation ergab.
Genau ein Jahr nach der ersten Umfrage wurde diese mit derselben Zielgruppe wiederholt. Ziel war es, zu ermitteln, welche Befürchtungen und Erwartungen tatsächlich eingetreten sind, inwiefern sich die unterschiedlichen Akteure mit den Einschränkungen arrangieren konnten und welche (langfristigen) Veränderungen sich in der Praxis abzeichnen. Die Umfrage zeigte, dass mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung ein Anstieg hinsichtlich der Verbreitung und Nutzung digitaler Beteiligungsformen zu beobachten war. Letzteres hat die Entwicklung digitaler Kompetenzen und Routinen bei vielen Usern gefördert und die technische Ausstattung verbessert. Viele Partizipationsdienstleister haben ihr Portfolio um digitale Angebote erweitert und sind nun Komplettanbieter von Beteiligungslösungen.

Positive Effekte digitaler Beteiligungsformate

Etliche Kommunen planen zudem zukünftig den Ausbau ihrer digitalen Beteiligungsstrukturen, sodass der virtuelle Raum auch nach Corona absehbar fester Bestandteil der deutschen Beteiligungslandschaft sein wird. Allerdings sind insbesondere die kommunalen Erfahrungen mit digitaler Beteiligung noch wenig evaluiert. Bislang gibt es keine universellen, wissenschaftlich belegten Empfehlungen. Hingegen hat sich ein Dutzend Herausforderungen ergeben, die sich als Chance oder Risiko im Rahmen der Digitalisierung von Beteiligung erwiesen haben – und oft genug als beides zugleich.
Digitale Beteiligungsformate haben zahlreiche positive Effekte: Entfallende Wege zu Ämtern, Rathäusern und Veranstaltungsorten bieten mehr Menschen eine Chance mitzuwirken. Der Zugang über das Internet bei gleichzeitigem Verbleib in der persönlichen Wohlfühlumgebung senkt die Hemmschwelle für eine Teilnahme. Jüngere, digitalaffinere Menschen werden erfolgreicher angesprochen. Schnelle Reaktions- und Rückmeldegeschwindigkeiten machen die Beteiligung dynamischer und attraktiver. Sie kann so, auch unter Kostengesichtspunkten, breiter angeboten und wahrgenommen werden. Während digitale Angebote bestimmte Zielgruppen also leichter erreichen, gilt für andere Gruppen das Gegenteil. Denn die unterschiedlichen Milieus in unserem Land sind auch unterschiedlich beteiligungsaffin und digitalkompetent. So stellen zum Beispiel die „Konservativ-etablierten“ eine starke Gruppe in offenen Beteiligungsprozessen, sind aber in der Digitalkompetenz abgeschlagen. Die „Experimentalisten“ wiederum sind in der klassischen Beteiligung unterrepräsentiert, aber digital gut anzusprechen. Digitale Partizipation beteiligt also zumindest in Teilen nicht nur anders, sondern auch andere Menschen. Das ist nicht zwangsläufig gut oder schlecht.

Nicht alle Prozesse sind digitalisierbar

Kein Prozess wird durch Digitalisierung automatisch besser. Das gilt auch für die Beteiligung. Wer zu spät, zu zögerlich, zu misstrauisch oder gar scheinbeteiligt – der wird das auch digital nicht besser machen. Zudem sind längst nicht alle Prozesse digitalisierbar – und Eins-zu-eins-Umsetzungen erfolgreicher analoger Formate ins Digitale funktionieren in der Regel nicht. Gut digitalisierbar sind vor allem Vorstufen der Beteiligung (Konsultation, Information) oder Formate der Scheinbeteiligung (Manipulation, Beschwichtigung, Beschäftigung). Das ist dann eine Gefahr, wenn digitale Formate analoge vollständig ersetzen sollen. Denn digitale Beteiligung tendiert zu einer niedrigeren Beteiligungstiefe. Digitale Prozesse sind zudem in der Regel zwar klarer strukturiert und haben schärfere On/Off-Strukturen, sind jedoch weniger verhandelbar und weniger lernfähig als analoge Verfahren. Dadurch erhöht sich das Risiko für Beteiligungslücken. Gleichzeitig können digitale Formate wie Feedback- und Vorschlagsportale neue Tools zur permanenten Aufnahme von Beteiligungsimpulsen bieten.
Anonyme Beteiligung senkt die Beteiligungs-, jedoch auch die Beleidigungsschwelle und heißt: Wir wissen nicht, wen wir beteiligen. Das ist nicht immer gut. Ein kommunales Bürgerbudget zum Beispiel sollte auch nur von Menschen aus dem jeweiligen Einzugsbereich vergeben werden. Die dadurch benötigte Verifizierung erhöht jedoch wiederum die Beteiligungsschwelle. Die Wahl zwischen anonymer und verifizierter Beteiligung ist daher ebenso herausfordernd wie deren Verknüpfung. Der digitale Raum ist zudem geprägt von Entkopplung, daraus resultiert die selbstverständliche Erwartung von Unverbindlichkeit. Die No-Show-Rate bei digitalen Terminen liegt erheblich über der bei analogen Events. Digitalem Handeln und damit digitaler Beteiligung wird zudem weniger Relevanz zugebilligt, entsprechende Ergebnisse sind leichter zu ignorieren. Die Herstellung von Verbindlichkeit in Bezug auf Teilnahme und Ergebnisse erfordert daher besondere Anstrengungen.

Analoge und hybride Formate wirksam kombinieren

Eine immer wieder betonte Stärke digitaler Beteiligung ist, dass einige Formate die Chance bieten, sich zu beliebigen Zeiten zu beteiligen. Eine solche asynchrone Beteiligung, etwa durch Foren, kann Breite herstellen, indem es Gruppen Angebote unterbreitet, die aus beruflichen, gesundheitlichen oder familiären Gründen keine Tages- oder Abendtermine wahrnehmen können. Gerade in Foren findet erfahrungsgemäß jedoch nur selten bis nie eine qualifizierte Debatte statt. Rein asynchrone Beteiligung funktioniert daher nicht, sie muss mit synchronen Formaten vernetzt, gut gestaltet und moderiert werden. Hybride Beteiligung kennen wir in unterschiedlichen Formen. Zum einen gibt es hybride Events, bei denen ein Teil der Beteiligten digital zugeschaltet ist. Diese Formate riskieren immer ein Beteiligungsgefälle. Real und digital Beteiligte gleichermaßen wirksam einzubeziehen, ist eine große Herausforderung. Ebenso herausfordernd ist die Kombination von analogen und hybriden Formaten. Fast immer führt der Medienbruch dazu, dass sich in den unterschiedlichen Formaten unterschiedliche Menschen beteiligen. Aus der Kombination analoger und hybrider Formate eine durchgehende Erfahrung mit Selbstwirksamkeitsanspruch zu entwickeln, ist möglich, aber anspruchsvoll.

Vertrauensbildung als zentrale Hürde

Es ist zu erwarten, dass formelle Bürgerbeteiligung in den kommenden Jahren nahezu ausschließlich auf digitale Tools setzen wird. Auch die informelle Beteiligung wird eine umfassende Digitalisierung erfahren. Analoge Formate werden aber dauerhaft Bestand haben. Es wird zunehmend hybride Verfahren geben, die analoge und digitale Formate kombinieren. Immer mehr Kommunen werden digitale Beteiligungsplattformen nutzen. Allerdings wird hier eine Konzentration auf wenige Tools und Anbieter stattfinden. Schon heute bieten etwa die Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Sachsen ihren Kommunen eine zentrale einheitliche Plattform an.
Zentrale Hürde für eine erfolgreiche digitale oder hybride Beteiligung bleibt auch in Zukunft die Frage der Vertrauensbildung im digitalen Raum. Es gibt hier viele Ansätze und Experimente. Nachhaltig überzeugende Konzepte liegen bislang noch nicht vor.

Jörg Sommer ist Direktor des Berlin Institut für Partizipation und gibt unter anderem das alle zwei Jahre erscheinende Kursbuch Bürgerbeteiligung heraus.

https://www.bipar.de
Dieser Beitrag ist der Ausgabe Februar 2023 von Kommune21 im Schwerpunkt E-Partizipation erschienen. Hier können Sie ein Exemplar bestellen oder die Zeitschrift abonnieren. (Deep Link)

Stichwörter: E-Partizipation

Bildquelle: terovesalainen/stock.adobe.com

Druckversion    PDF     Link mailen




 Anzeige


Weitere Meldungen und Beiträge aus dem Bereich E-Partizipation
Wuppertal: Bürgerbeteiligung wird evaluiert
[30.3.2023] Wie zufrieden sind die Bürgerinnen und Bürger von Wuppertal mit den Online-Beteiligungsverfahren und der Online-Plattform? Um die digitale Partizipation noch bürgerfreundlicher zu gestalten, hat die Stadt nun eine fortlaufende Umfrage gestartet; die Umsetzung übernahm wer denkt was. mehr...
Ratingen: Digitaler Mängelmelder am Start
[22.3.2023] Mit dem Anliegen-Management-System Mängelmelder arbeitet jetzt die Stadt Ratingen. Die Bürger können somit Ärgernisse im öffentlichen Raum einfacher an die Stadtverwaltung melden. Diese will im Umkehrschluss schneller darauf reagieren. mehr...
Die Stadt Ratingen setzt den Mängelmelder von wer denkt was ein.
Hamburg: Bürgerbefragungen KI-gestützt auswerten
[14.3.2023] Das in Hamburg erstellte digitale Beteiligungssystem DIPAS wird gut angenommen. Jetzt ist die Entwicklung des neuen Moduls DIPAS analytics gestartet, das mit KI-Unterstützung dazu beitragen soll, Freitext-Antworten aus Partizipationsverfahren – und andere Texte – auszuwerten. mehr...
Osnabrück: Schäden noch einfacher online melden
[13.3.2023] Seit fast zehn Jahren bietet die Stadt Osnabrück das EreignisMeldeSystemOsnabrück EMSOS an. Nun steht die maßgeschneiderte Lösung in neuem Design und mit erweiterten Funktionen als Version 2.0 zur Verfügung. mehr...
EMSOS 2.0 erleichtert das Melden von Mängeln und deren Bearbeitung.
Mainz: Web-Seiten zur Bürgerbeteiligung
[7.3.2023] Auf ihrem Web-Auftritt bietet die Stadt Mainz jetzt auch Informationen rund um die Bürgerbeteiligung. mehr...
Weitere FirmennewsAnzeige

Stadt Essen nutzt Eingangsrechnungsworkflow der xSuite im großen Stil: Sichere Planung durch Rechnungsworkflow
[23.3.2023] Essen ist eine moderne Wirtschafts-, Handels- und Dienstleistungsmetropole im Herzen des Ruhrgebiets. Sie ist Konzernzentrale, zum Beispiel für RWE AG, Evonik Industries AG, E.ON Ruhrgas AG, GALERIA Karstadt Kaufhof GmbH und Hochtief AG. Die Messe Essen ist etabliert unter den Top-Ten der deutschen Messeplätze. Was viele Besucher angesichts der modernen Essener Skyline verblüfft: Die Geschichte der Stadt ist älter als die Berlins, Dresdens oder Münchens. Essen feierte im Jahr 2002 das 1150-jährige Jubiläum von Stift und Stadt Essen. mehr...

Mobilfunk für alle: Schnelle Fortschritte im Netzausbau
[16.3.2023] „Zukunft braucht noch schnellere Digitalisierung. Denn sie ist Teil der Lösung für zentrale Herausforderungen. Mit ihr können Bürger, Unternehmen und Verwaltungen resilienter, nachhaltiger und effizienter werden“, sagt Markus Haas, CEO von O2 Telefónica Deutschland. Seit der 5G-Frequenzauktion 2019 hat Telefónica enorm viel bewegt für ein flächendeckend schnelles Mobilnetz in Deutschland und die Netzqualität für die Kundinnen und Kunden signifikant gesteigert. Dies bestätigen unabhängige Netztests – etwa der Fachzeitschrift connect – mit dem wiederholten Urteil „sehr gut“. mehr...
Suchen...

 Anzeige



Aboverwaltung


Abbonement kuendigen

Abbonement kuendigen
Ausgewählte Anbieter aus dem Bereich E-Partizipation:
leanact GmbH
38106 Braunschweig
leanact GmbH
wer denkt was GmbH
64293 Darmstadt
wer denkt was GmbH
NOLIS GmbH
31582 Nienburg/Weser
NOLIS GmbH
Aktuelle Meldungen