Donnerstag, 6. November 2025

InterviewE-Government braucht Zeit

[04.08.2015] Estland ist ein Vorbild für die erfolgreiche Digitalisierung von Staat und Gesellschaft. Kommune21 sprach mit Regierungsberater Ivar Tallo, Gründer der estnischen e-Governance Academy, über den Weg zu E-Estonia.
Ivar Tallo

Ivar Tallo

(Bildquelle: e-Governance Academy)

Herr Tallo, während in Deutschland viel über die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung diskutiert wird, hat Estland den Wandel bereits bewältigt. Wie beschreiben Sie den Weg zu E-Estonia?

Nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion im Jahr 1991 musste in Estland die öffentliche Verwaltung völlig neu aufgebaut werden, denn die Sowjet-Bürokratie war delegitimiert. Schon in den 1990er-Jahren entstand der Plan, den Staat mithilfe neuester Technologien zu modernisieren. Bereits 1997 wurden die wesentlichen Grundsätze einer Informationsgesellschaft formuliert. Es begann mit dem Bildungswesen – alle Schulen sollten Computer und Internet-Anschluss erhalten –, der öffentlichen Verwaltung und dem Bankensystem.

Welche Idee stand hinter der Verwaltungsmodernisierung?

Es ging beim Neuaufbau der öffentlichen Verwaltung darum, gleich auf Papier zu verzichten. Behörden und Bürger sollten miteinander kommunizieren können, ohne dass Verwaltungsmitarbeiter dazwischen geschaltet sind. Das war die wesentliche Idee, keine Einschränkungen durch Bürokratie, sondern direkte Online-Kommunikation.

Wie wurde das umgesetzt?

In den Behörden wurden entsprechende Informationssysteme aufgebaut und vernetzt. Die Regierung beschloss, eine Infrastruktur mit Service-Layern zu entwickeln, die Datenanfragen vermitteln. Der Aufbau dieser Architektur namens X-Road begann 2001. Mit Erfolg: Im Jahr 2006 waren alle Behörden über X-Road miteinander verbunden.

Was waren die Erfolgsfaktoren?

Die Entwicklung der Infrastruktur für den sicheren Datenaustausch war als offenes Projekt mit Open End angelegt, was manches erleichtert hat. Zudem wurde das Projekt von einer Gesetzgebung begleitet, um die nötigen Voraussetzungen zu schaffen. Estland erließ beispielsweise ein Informationsgesetz, das alle Behörden verpflichtete, wesentliche Informationen online zu veröffentlichen. Zudem müssen sie ein elektronisches Dokumenten-Register führen. Im 2006 erlassenen Verwaltungsverfahrensgesetz wurde festgelegt, dass der Staat die Daten von Bürgern nur einmal erfasst. Für Verwaltungsvorgänge nötige Informationen sollten aus den Datenbanken kommen. Wir fanden es lächerlich, wenn bereits vorhandene Daten abgefragt werden.

Wie wirkt sich die Digitalisierung auf die Bürger aus?

Gegenfrage: Wie lange dauert es, bis Sie Ihre Steuererklärung ausfüllen? In Estland geht das in weniger als fünf Minuten mit ein paar Klicks. Deshalb werden 95 Prozent der Steuererklärungen über das Internet abgegeben. Auch bei Wahlen können die Bürger ihre Stimme online abgeben, was inzwischen rund ein Drittel der Wähler tun. Die Authentifizierung geschieht über die digitale ID-Karte, die von rund 70 Prozent der Bürger genutzt wird. Und: In Estland müssen Autofahrer ihren Führerschein nicht dabei haben. Die Polizei kann über das Internet auf alle nötigen Informationen zugreifen.

„Wir fanden es lächerlich, wenn bereits vorhandene Daten abgefragt werden.“
Seit 2015 können Ausländer eine virtuelle Staatsbürgerschaft in Estland beantragen. Was steckt dahinter?

Die Idee entstand, um ausländischen Geschäftsleuten das Leben zu erleichtern. Die E-Residency erlaubt auch ihnen eine digitale Authentifizierung und die digitale Unterschrift mittels eID-Karte. Um die virtuelle Staatsbürgerschaft zu erhalten, ist allerdings ein realer Kontakt mit einer Behörde nötig. Dabei werden biometrische Daten erfasst. Erst nach einem Hintergrund-Check erhält der Antragsteller den Ausweis. Online wählen darf er damit übrigens nicht.

Kann Estland mit 1,3 Millionen Einwohnern eine Blaupause für erfolgreiches E-Government in anderen Staaten sein?

Ich habe inzwischen über 80 Länder, nicht nur in Europa, beraten, wie sie E-Government einführen können. Natürlich ist jedes Land anders und es geht auch nicht um standardisiertes E-Government, sondern um eine öffentliche Verwaltung, die durch moderne Technologien unterstützt wird. Was früher das Bürokratiemodell von Max Weber war, bietet heute vielleicht Estland: eine Art idealtypisches E-Government.

Können Sie der deutschen Regierung einen Rat geben, wie der digitale Personalausweis zum Erfolg geführt werden kann?

Ich weiß nicht genau, warum die eID in Deutschland nicht funktioniert. Aber im Moment berate ich die Regierung in Georgien zur gleichen Frage. Dort wurden drei Millionen eID-Karten ausgegeben und nur 3.000 Bürger nutzen sie. Wichtig ist in jedem Fall, dass es Anwendungen gibt, welche die Bürger häufig nutzen. Und es sollte keine bürokratischen oder finanziellen Hindernisse geben. In Estland wird die eID-Karte auch für Online-Bankgeschäfte eingesetzt, die Banken wurden per Gesetz verpflichtet, dies zuzulassen. Der Anteil an Online-Transaktionen im Bankgeschäft liegt in Estland bei 98 Prozent. Zudem können Esten mittels eID-Karte ihre Online-Kommunikation verschlüsseln, sodass nicht einmal der amerikanische Geheimdienst NSA mitlesen kann.

Das müsste ja insbesondere deutsche Politiker interessieren.

In der Tat. Aber Deutschland hat den großen Wurf ja schon gemacht und die Karten ausgegeben. Es ist meines Erachtens eine kleinere Sache, für den Erfolg zu sorgen. Estland hat die digitale ID-Karte 2002 eingeführt. In den ersten Jahren fanden die Bürger sie nützlich als Eiskratzer für Autoscheiben, um die Kreditkarte zu schonen. Heute will niemand mehr darauf verzichten. Ich beschäftige mich seit 20 Jahren mit der IT-gestützten Verwaltungsmodernisierung. Meine Erfahrung ist: Der Erfolg kommt nicht über Nacht, E-Government braucht Zeit.

Interview: Alexander Schaeff




Anzeige

Weitere Meldungen und Beiträge aus dem Bereich: Panorama

Initiative Ehrenbehörde: Michelin-Stern für Behörden

[28.10.2025] Zwölf Behörden aus Deutschland, Österreich und der Schweiz wurden jetzt für neue Standards in Kommunikation, Digitalisierung und Führung als „Ehrenbehörden 2026“ ausgezeichnet. mehr...

dbb akademie: Digitalisierung im öffentlichen Dienst bleibt große Baustelle

[24.10.2025] Die dbb akademie hat jetzt das Fach- und Führungskräfte-Barometer 2025 vorgelegt. Demnach fühlen sich jüngere Generationen digital fitter, aber unzureichend vorbereitet. mehr...

Screenshot des 360-Grad-Rundgangs im Innern des Augsburger Doms

Augsburg: Dom in 4D erkunden

[17.10.2025] Der Augsburger Dom kann künftig auch in 4D erkundet werden. Der virtuelle Rundgang führt durch verschiedene Epochen und macht Geschichte auf besondere Art greifbar. mehr...

Drohne vor blauem Himmel

Katastrophenschutz: 5G-Drohne hilft Rettungskräften

[14.10.2025] Inwiefern Drohnen durch Live-Luftaufnahmen bei Rettungseinsätzen unterstützen können, testet aktuell die Berufsfeuerwehr Rostock. Koordiniert wird das Projekt ADELE vom Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). mehr...

Geschäftsmann hält Puzzle mit virtuellem Symbol.

Leitfaden: Wegweiser für Digitalisierungsbeauftragte

[07.10.2025] Studierende der Hochschule Ludwigsburg haben unter fachlicher Beratung von Axians-Infoma-Consultants einen Leitfaden entwickelt, der Digitalisierungsverantwortliche in Kommunen auf ihre vielfältigen Aufgaben vorbereiten soll. mehr...

Journalist und Podcast-Host Martin Brüning (l.) mit Oberbürgermeister Belit Onay im Maschpark.

Hannover: Podcast mit dem OB

[25.09.2025] Ein neues Kommunikationsformat startet Niedersachsens Landeshauptstadt: „Hannover macht das!“ lautet der Podcast mit dem Oberbürgermeister, der einen Beitrag zum demokratischen Diskurs leisten möchte. mehr...

eGovernment-Wettbewerb 2025: Die Gewinner stehen fest

[22.09.2025] Die Preisträgerinnen und Preisträger des 24. eGovernment-Wettbewerbs stehen fest. Die ausgezeichneten Projekte wollen konkrete Antworten auf Herausforderungen des Verwaltungsumbaus geben – mit KI, der Digitalisierung von Prozessen und durch bessere Bürgerservices. mehr...

Junger Mann mit einem Schreiben in der Hand rauft sich die Haare und schaut besorgt.

Dresden: Verständliche Behördenschreiben

[18.09.2025] Behördliche Schreiben sollen für rechtliche Eindeutigkeit sorgen – sind für Bürgerinnen und Bürger aber oft nur schwer verständlich. Die Stadt Dresden möchte das ändern: Eine Umfrage soll helfen, Verwaltungstexte klarer, verständlicher und bürgernäher zu gestalten. mehr...

Porträt einer Frau mit Kopfhörern in Office-Umgebung, die konzentriert zuhört.

Podcast: Deutschland-Index 2025 zum Hören

[05.09.2025] Welche Entwicklungen lassen sich bei digitaler Infrastruktur, Nutzungsverhalten und Verwaltungsdigitalisierung in den bundesdeutschen Ländern beobachten? Der ÖFIT-Podcast bereitet aktuelle Zahlen zu diesen und anderen Fragen ohrenfreundlich auf. mehr...

Wildschwein auf einer Lichtung

Kreis Kassel: Digitaler Service für Jäger

[15.08.2025] Die sogenannte Digitale Wildmarke erleichtert Jägern im Kreis Kassel jetzt die vorgeschriebene Abgabe von Trichinenproben. Gekühlte Briefkästen und ein App-gestütztes Verfahren verbessern nicht nur den Service für die Jäger, sondern stärken auch die Früherkennung von Tierseuchen. mehr...

Mithilfe eines CDO widmet sich die Stadtverwaltung Bonn der Digitalisierung.

Bonn: Modellkommune für Verwaltungsmodernisierung

[14.08.2025] Die Bundesstadt Bonn will sich als Modellkommune der Initiative „Für einen handlungsfähigen Staat“ bewerben. Ziel ist es, innovative Verwaltungsansätze zu erproben, Verfahren zu beschleunigen und Bürokratie abzubauen – im Rahmen demokratischer Prozesse. mehr...

Frauenhände die auf einem Laptop tippen mit einem Overlay aus Binärcode.

München/Schleswig-Holstein: Gemeinsam für gute Nutzererlebnisse

[04.08.2025] Im Projekt KERN setzen München und Verwaltungscloud.SH künftig gemeinsam Impulse: Sie übernehmen die Federführung für eine neue Technologieanbindung und stärken so die Entwicklung eines länderübergreifenden UX-Standards für die Verwaltung. mehr...

KGSt: Kooperation mit der DUV vereinbart

[24.07.2025] Um das kommunale Management weiter zu stärken, haben die KGSt und die Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften (DUV) Speyer eine Kooperation geschlossen. mehr...

drei Personen vor einem Bildschirm, Frauengesicht auf Bildschirm

Fraunhofer IESE: Digitale Dörfer werden Smartes Land

[16.07.2025] Das Fraunhofer-Institut IESE, die Deutsche Assistance und die Versicherungskammer Bayern haben die Smartes Land GmbH gegründet. Damit werden die Plattformlösungen DorfFunk und BayernFunk aus dem Forschungsprojekt „Digitale Dörfer“ in den dauerhaften Betrieb überführt und unter einem gemeinsamen Dach weiterentwickelt und betrieben.  mehr...

Logo Digitaltag 2025 Digitale Demokratie

Studie: Viele fühlen sich digital abgehängt

[03.07.2025] Eine repräsentative Studie anlässlich des Digitaltags zeigt, dass in Deutschland zwar eine große Offenheit gegenüber digitalen Angeboten besteht, viele Menschen sich aber digital abgehängt fühlen und ihre eigenen Digitalkompetenzen eher schlecht bewerten. mehr...